Zum Frameset "Rechtschreibung & RSR"

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Dieser Leserbrief folgte unmittelbar auf die Kapitulation der F.A.Z./S. am 1.–3.12.2006.
Am 10.12.2006 veröffentlichte die F.A.S. keinen einzigen Leserbrief zum Thema.

Leserbrief vom 04.12.2006 an die
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Kapitulation

Hätte die F.A.Z. in ihrer Begründung, sich über den Mehrheitswillen ihrer Leser und der Bevölkerung hinwegzusetzen, nicht wenigstens ehrlich bleiben können? Aus "Verantwortung gegenüber den Kindern" hat sie natürlich nicht kapituliert. Verantwortung tragen die Eltern, deren Erziehungsrecht, ideologisch motiviert, der Staat mißachtet. Dieser bekommt nun die Handlangerdienste einer weiteren Zeitung, die besser wissen will, was für Kinder gut ist, als deren Eltern. Diese sollen selbst kein normales Deutsch mehr lesen dürfen, damit nicht aus Versehen ihre Kinder (Kinder?) eine F.A.S.-Ausgabe auf dem Wohnzimmertisch entdecken, sich dort in einen Artikel vergucken und eine Formulierung und deren Schreibweise zu eigen machen!? Kapituliert hat die F.A.Z. einzig aus demselben Grund, aus dem sie es schon 1999 tat: aus der Sehnsucht des Mitläufers heraus, dazuzugehören, "modern" zu erscheinen. Auch in der F.A.S./Z. wird man also künftig "Morgen" und "Abend" etwas über "allein stehende (nicht sitzende) "Jährige" (etwa 30-Jährige), "aufwändige" Reformen und viele andere "Missstände" lesen – wenn man sie denn weiter liest.

Hans-Jürgen Martin, Solingen

Am 08.12.2006 erreichte den Autor aber die folgende eMail vom F.A.Z.-Herausgeber D'Inka:

Sehr geehrter Herr Martin,

für Ihre Mail vom 7. Dezember in Sachen Rechtschreibung danke ich Ihnen.

Den Schritt, die Rechtschreibung in der Zeitung zum 1. Januar 2007 den in den Schulen gebräuchlichen Schreibweisen anzupassen, haben wir haben uns wirklich nicht leicht gemacht. Allerdings sind wir nach sorgsamer Abwägung davon überzeugt, daß wir die richtige Entscheidung getroffen haben. Die Sorge, daß Sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung etwas über "allein stehende" Menschen lesen, kann ich Ihnen nehmen. Darin liegt ja gerade der Erfolg unserer Haltung: Daß derlei Unfug nicht verbindlich geworden ist und wir auch weiterhin unterscheiden können, ob Menschen zu einem bestimmten Zweck "zusammengekommen" sind – oder ob sie "zusammen gekommen und zusammen gegangen" sind.

Was wird sich in der Zeitung ändern? Am sichtbarsten wird die Doppel-S-Schreibung in Wörtern wie "dass", "muss" oder "Schluss" sein. Zudem werden wir der Regel folgen, daß drei Konsonanten auch in den Fällen geschrieben werden, in denen es bisher zweien blieb (am "helllichten" Tag) – Regeln also, die eher Konventionen sind. Ich darf darauf hinweisen, daß in den Konstellationen, da ein weiterer Konsonant folgte, wie in "Sauerstoffflasche" oder "fetttriefend", auch nach den "alten" Regeln drei Konsonanten aufeinandertrafen. Wo es aber um Sinn und um Sprachnuancen geht, bleiben wir bei den bewährten Schreibweisen. Deshalb werden wir auch künftig auf dem Unterschied zwischen einem "vielversprechenden" und einem "viel versprechenden Politiker" bestehen. Denn nach jahrelangen Auseinandersetzungen haben die Reformgegner erreicht, daß der von der Kultusministerkonferenz eingesetzte Rat für Rechtschreibung zahlreiche Fehlentscheidungen der Reformer korrigiert hat. Es ist also wieder in vielen, ja sogar in den allermeisten Fällen möglich, die bewährten Schreibweisen anzuwenden. Das ist ein großer Erfolg, und er ist größer, als man nach dem Verlauf der Debatte in den letzten Jahren erhoffen durfte.

Der anhaltende Widerstand der meisten deutschen Schriftsteller und ihrer Verlage, die Not von Schülern, Lehrern und Eltern, die Proteste in den Medien, nicht zuletzt die Empörung in weiten Teilen der Öffentlichkeit angesichts einer anmaßenden Kultusbürokratie - all dies hat dazu geführt, daß die Reform mehrfach reformiert wurde. Deshalb scheint uns jetzt, ein halbes Jahr bevor die Übergangsfrist in den Schulen am 31. Juli 2007 abläuft, der Zeitpunkt gekommen, die Rechtschreibung in der Zeitung der Rechtschreibung in den Schulen anzugleichen. Unsinnigen Regeln werden wir freilich auch in Zukunft nicht folgen. Auch künftig wird es also weder "Stängel" noch "Quäntchen", sondern nur Stengel und Quentchen in Ihrer Zeitung geben. Desgleichen werden wir an einer Silbentrennung festhalten, die beispielsweise bei Fremd- oder Lehnwörtern deren Herkunft erkennen läßt: "Sub-stanz", "Inter-esse". Leute, die der "alten" Rechtschreibung durchaus gewogen sind, sagen, daß es unter diesen Auspizien – also abgesehen von "ss" oder "ß" – beispielsweise im "Spiegel" nur auf jeder dritten Seite zu einer neuen Schreibweise komme.

Wir wissen, daß viele unserer Leser jeden Kompromiß in dieser Frage strikt ablehnen. Im Privatleben ist eine solche rigorose Haltung möglich, denn privat kann zum Glück nach wie vor jedermann so schreiben, wie er es für richtig hält. Aber für eine Zeitung verhält sich die Sache anders: Wir tragen eine Verantwortung der Öffentlichkeit gegenüber, und zu dieser Öffentlichkeit zählen auch die Schüler. Wir sind den jungen Menschen schuldig, daß wir für die Einheitlichkeit der Rechtschreibung alles tun, was in unserer Macht steht.

Deshalb hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung sich gemeinsam mit den Redaktionen des "Spiegels" und der "Süddeutschen Zeitung" zu diesem Schritt entschlossen. Er entspringt dem Wunsch, endlich einen Schlußpunkt hinter diese überflüssigsten aller Reformen zu setzen. Unser Entschluß dient den Lesern ebenso wie der Redaktion. Er dient den Schülern, Lehrern und Eltern, und er dient der Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung, die von den Reformern ohne Not aufs Spiel gesetzt wurde.

In der Hoffnung, daß unsere Entscheidung auch Ihr Verständnis finden wird,
grüße ich Sie herzlich

Werner D'Inka
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Herausgeber

Noch am Abend des 08.12.2006 folgte diese Erwiderung an Herrn D'Inka:

Sehr geehrter Herr D'Inka,

1. Unfug wie "allein stehende" Menschen werde es in Ihrer Zeitung nicht (bzw. nur im wörtlichen Sinn, wie ich annehmen darf) geben, kündigen Sie an. 1:0 für Sie. Aber warum äußern Sie sich zu dem anderen Unfug nicht:

  • Wie bezeichnen Sie denn Formulierungen wie "heute Morgen" und "gestern Abend"? Wenn man die Wortklasse von "Morgen" und "Abend" nicht böswillig grammatisch uminterpretiert, um Sie zur zwangsreformierten Schulschreibung passend zu machen, dann bleiben diese Wörter Substantive. Somit produzieren Sie einen Grammatikfehler, weil die Präposition fehlt: Es heißt "heute am Morgen", "heute im Morgengrauen" etc. In der S-Bahn in Düsseldorf nahm kürzlich eine Schülerin einen Anruf entgegen und antwortete ins Handy: "Ich bin Oberbilk!" Auf dieses Niveau begeben Sie sich mit "gestern Abend".
  • Wie halten Sie's mit "Jährigen"? Jeder versteht, was ein "F.A.Z.-Herausgeber" ist, weil er das Wort "Herausgeber" kennt: Der erste Bestandteil ("F.A.Z.") spezifiziert den zweiten – genau wie in "Fahrkarten-Automat", "Zigaretten-Automat" etc. Was aber ist dann ein "30-Jähriger"? Haben Sie den Mut anzukündigen, daß es in der F.A.Z. auch keine "Jährigen" geben wird?
  • Was ist mit all den anderen Schreibungen, die nichts mit dem Heyseschen "ss" zu tun haben?

2. "Regeln also, die eher Konventionen sind": Haben Sie sich mit dem Begriff der "Regel" (deskriptiven, präskriptiven etc.) jemals auseinandergesetzt? Der konstruierte Gegensatz von Regel und Konvention bzw. Sinn und Konvention (Welt-Interview vom 11.09.2006) zeigt, daß Sie offenbar nicht verstehen, was Linguistik-Studenten in Proseminaren lernen: daß Konvention im Kommunikationsmodell gerade die Voraussetzung für (gesprochene und geschriebene) Sprache und folglich für Verständigung ist – und damit nichts anderes als "Regel".

3. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen haben die Reformgegner erreicht, glauben Sie, daß der Rat für Rechtschreibung zahlreiche Fehlentscheidungen der Reformer korrigiert hat. Abgesehen davon, daß der Rat gar nicht zu Ende beraten durfte und wollte: Haben Sie nicht mitbekommen, daß der Vorsitzende dieses Rates offenbar eine andere Wahrnehmung dieser Korrekturen hat als etliche Verlage, allen voran der Duden-Verlag: Zehetmair will die "Varianten" wie in konventioneller Rechtschreibung als verschiedene Schreibungen für verschiedene Begriffe verstanden wissen, während der Duden von rein orthographischen Varianten ausgeht. Genau dieser Duden ist aber in den Schulen weiterhin Korrekturgrundlage, und manche Lehrer empfehlen die 1996er Reformvarianten explizit als Ausweis von Fortschrittlichkeit! Schüler lernen also auch in Zukunft ein anderes Deutsch, als Sie es drucken.

4. "Abgesehen von 'ss' oder 'ß'" komme es im "Spiegel" nur auf jeder dritten Seite zu einer neuen Schreibweise. Abgesehen davon, daß Sie darauf im eigenen Interesse nicht wetten sollten: Sie wissen sehr wohl, daß das Heysesche "ss" keine Marginalie, sondern vor allem quantitativ der zentrale Schwachpunkt der verordneten Falschschreibung und ihre Erkennungsmarke ist. Ihre scheinsubversive Rolle als "Schaf im Wolspelz" kann ich Ihnen also nicht abnehmen; wenn sich die F.A.Z.-Hausorthographie tatsächlich in vielen Schreibungen von der realen Schulschreibung unterscheiden sollte, werden die "armen Schüler", die die "ss"-getarnte F.A.Z. lesen, dort andere Schreibungen vorfinden, als in der Schule gewohnt, und die Fehlerpunkte für "Greuel", "Stengel", "numerieren" und "plazieren" werden ihnen "leid tun".

5. Sie tragen eine "Verantwortung der Öffentlichkeit gegenüber", und zu dieser Öffentlichkeit zählen auch die Schüler!? Lassen Sie mich raten, was Sie mit "Öffentlichkeit" meinen: nicht die Mehrheit des deutschen Wahl- und Schreibvolkes – dessen eindeutige Meinung zur RSR haben Allensbach & Co ja immer wieder erfragt und dokumentiert –, sondern eine Minderheit der Einflußreichen und Mächtigen: Ihrer peer group. Die Erziehungsberechtigten der Kinder, die Sie zu schützen vorgeben, nehmen Sie ebensowenig ernst wie die Kultusminister, Bürokraten und Gerichte. Wenn eine Partei die Macht will, sagt sie: "Wir sind bereit, Verantwortung (in diesem Land) zu übernehmen." Exakt so verstehen auch Sie das Wort "Verantwortung" (und das Wort "Macht" ist vielleicht nicht zufällig in Ihrem Satz gelandet).

6. Einheitlichkeit? Ist diese denn für Sie Selbstzweck? Läßt sie sich durch Hausorthographien erreichen? Und mit wem stellen Sie sie her? Demokratisch mit der Mehrheit? Offenbar nicht. Wenn Sie nun einen "Schlußpunkt" setzen, dann ist es ein "Schlusspunkt" von oben – verordnete Scheinruhe. Sie mißachtet die Leser und, wie ich glaube, auch die Redaktion. Ich hatte immer schon ein großes und, wie ich überzeugt bin, demokratisch-gesundes Mißtrauen gegenüber Mächten, die besser wissen wollen, was für mich (auch als Leser) gut ist, als ich selbst!

Freundliche Grüße
Hans-Jürgen Martin


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